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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0097
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K. Lange,
Die Ent-
stehung
der deko-
rativen
Kunst-
formen.

Richard Riemerschmid in München, Herrenzimmer. Ans »Deutsche Kunst und Dekoration«; Verlagsanstalt Alexander

Koch in Darmstadt.

radezu in einem Gegensatz zu der wirklichen Funktion der Werkform steht.
Dies mag am Beispiel der Säule erläutert werden.

Bötticher faßt die Säule, künstlerisch ganz richtig, als ein organisch auf-
wärts strebendes Gebilde auf. Er spricht von dem „gewaltigen Konflikt4',
der an der Stelle entsteht, wo das Gebälk auf der Säule aufliegt. Aber alles
das ist keine Wirklichkeit, sondern nur Vorstellung. Alles das legen wir ja
der Säule nur auf Grund ihrer Kunstform unter. Ihre tatsächliche Funktion
ist eine ganz andere. Welche denn? Sie schiebt sich als fester, starrer, läng-
lich senkrechter Körper zwischen den Fußboden und die Decke und verhin-
dert dadurch diese, auf jenen herabzufallen. Dies ist eine rein mechanische
Leistung. In Wirklichkeit wächst die Säule durchaus nicht in die Höhe. Die
einzige wirkliche Kraft, die in ihr vorhanden ist, ist die Schwerkraft. Die
Säule ist schwer, jede ihrer Trommeln lastet nach unten, und zwar um so
mehr, je näher sie sich dem Erdboden befindet. Diese Schwerkraft, in ihrer
Steigerung und Summierung von oben nach unten, ist allen Teilen des Baues
eigen. Nirgends am ganzen Bau ist eine Stelle, wo diese natürliche, rein
mechanische Schwerkraft durch eine andere entgegengesetzte Kraft aufgehoben
oder verringert würde. Nur das Fallen, das Einstürzen des Gebäudes wird
durch die Art des Aufeinanderschichtens der Materie verhindert.

Zu dieser tatsächlich vorhandenen Kraft steht nun die Kraft, die der Säule
durch die Kunstform verliehen wird, in einem strikten Gegensatz. Jene
geht von oben nach unten, diese von unten nach oben. Jene ist mechanischer,

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